08.10.2011, 12:35
Der große Zauber
Es war einmal, vor unendlich langer Zeit, als die Sonne noch in der Wiege lag und der Mond noch still träumte, und noch keines Lebewesens Fuß den Tau der in Wehen liegenden Erde berührte...
Vor unendlich vielen Äonen, als Mensch und Tier noch nicht einmal flüchtige Ideen waren, lebte auf einem längst verlorenen Kontinent ein Magier.
Er lebte und war sich seiner selbst bewußt, doch war er körperlos und existierte nur, indem er sich aus seinen Ideen, Gedanken und Träumen selbst erschaffen hatte.
Deine stumpfen Sinne hätten ihn weder sehen, hören, noch spüren können und doch gab es ihn, denn er war der erste, der in das neugeborene Erdenantlitz blickte.
Dieser Magier existierte in einer Fülle aus reinen, klaren Ideen, die du gut nennen würdest, denn er träumte die Bäume, den Ozean und die Seen, den Wind, die Gräser und Blumen, die Wolken und die Berge.
Er träumte die Vögel für die Bäume, die Fische für das Meer und die Seen, die Schmetterlinge für die Blumen und den Adler für den Wind. Und all seine Ideen waren rein und erfüllt von reinster Freude.
Immer neue Träume schaffened glitt er in Gedanken über die Formen des Seins und wurde nicht müde, sich ihrer Vielfalt zu erfreuen.
Du hättest den Magier vielleicht als weißes, strahlendes Licht gesehen - damals, als deine Augen noch offen waren und den Nebel noch nicht kannten. Alles um ihn herum war von diesem unbefleckten Licht umhüllt und in ihm geborgen.
Hunderte, tausende Äonen hindurch existierte der Magier, sich an der Schönheit seiner Gedankenformen erfreuend, die alle ein Teil von ihm waren, so wie er ein Teil von ihnen war.
Doch da geschah es, daß der Magier des Träumens und Ideenschaffens langsam müde wurde, denn es gab nichts, was was nicht schon da gewesen wäre: jede scheinbar neue Idee war nur das sterbende Echo einer alten, schon längst verklungenen. Selbst die Gedankenwesen wurden seltsam träge und sehnten sich nach Neuem, Unerforschtem...
Da träumte der Magier die Zeit, damit sich seine Gedankenbrüder und -schwestern erinnern konnten an das was war und was noch sein wird.
Und er sah, daß seine Träume gut waren, denn sie erhoben sich aus dem trägen Sumpf und lebten in der Zeit, um sich zu erinnern.
Und mit der Zeit wurde sich jeder Gedanke selbst bewußt: der Adler erinnerte sich an den sanften Atem des Windes, der seine Schwingen streichelte. Der Schmetterling erinnerte sich an das lebendige Bunt der Blütenblätter. Die Gemse erinnerte sich an das Gefühl des harten Felsgesteins unter ihnen Hufen. Und die Fische erinnerten sich an das Nebelblau, das an ihren Augen vorüberglitt.
Das Hier und Heute war geboren und mit ihm zugleich das Gestern und Morgen - der Augenblick im Nu Vergangenheit.
Und durch diese neue Dimension erkannten die Geschöpfe erst, wie eintönig und gleichfarben ihr Dasein war. Sie sahen nun, dass alles um sie herum gleich geblieben war - hunderte und tausende von Zeiten hindurch. Sie sehnten sich nach Ruhe vor dem erschöpfenden, allgegenwärtigen Licht, das ihren Sinnen keine Rast gönnte.
Da sann der Magier abermals über seinen Zauber nach...
Und er hatte einen Traum: er träumte ein Wesen, das nicht wie er war und ihm doch gleich.
War er selbst Licht, war der andere Schatten. War sein Bewußtsein erfüllt von Leben, Liebe und taumelnder Freude, so war das Bewußtsein des anderen erfüllt von Tod, Hass und düsterem Schmerz. Fand der eine in seinem Schaffen die Freude, Leben zu schenken, war das Sein des anderen erfüllt von der Lust, dies Leben wieder fortzureißen.
Der schwarze Magier war geboren, und mit ihm kam endlich die Dunkelheit über die Welt.
Schwarze Finsternis, in deren sicherem Schutz die Wesen ihre langersehnte Ruhe und Stille fanden. Der Mantel der Nacht hüllte sie ein und sie fanden Frieden im Schlaf.
Doch mit der Finsternis kamen auch Furcht und Angst über die Welt und ihre Wesen. Lebten die Gedankenbrüder und -schwestern anfangs noch in gegenseitiger Liebe und Achtung nebeneinander her, so fühlten sie plötzlich etwas Neues in ihren Seelen, etwas, das sie nie wieder so sein ließ, wie sie einmal waren: die Gemse scheute vor der Gegenwart des Adlers zurück, dessen stechende Blicke sie nun wachsam und hungrig betasteten. Der Schmetterling suchte Schutz inmitten der Blumenfülle, wenn er die Amsel in der Ferrne erspähte. Die Fische verkrochen sich unterm Seegestein, sobald der Hecht an ihnen vorüberglitt, und die flinke Gazelle stob davon, wenn der Löwe aus seinem Schlummer erwachte.
Die Formen des Seins fanden nun in der Dunkelheit nicht nur Ruhe und Schlaf, dondern auch Schutz voreinander. Am Tage fühlten sie Furcht, und keiner wagte es mehr, dem anderen zu trauen.
Der Schwarze Magier jedoch sah dies mit Wohlgefallen. Es ergötzte ihn, den Wesen zuzusehen, wie sie sich voreinander verkrochen. Es erfreute ihn, hungrige Gier in ihren Augen blitzen zu sehen, und er folgte zufrieden dem Treiben am Tage, wenn jeder sich selbst am nächsten stand. Er fand in ihren Wesen sein eigenes Wesen wieder, und sein Spiegelbild gefiel ihm immer besser...
Doch wie du nun vielleicht glauben magst, waren der Weiße und der Schwarze Magier nicht etwa Feinde, die ihr Tun gegenseitig zu bekämpfen trachteten. So war es nicht, denn der eine war ja aus dem anderen hervorgegangen. Der eine bedurfte des anderen um ganz zu sein. Jeder war auf seine Weise einzigartig in seinem Schaffen und Tun. Durch sie erst gab es das, was du oben nennst und unten, innen und außen, gut und böse. Der eine ergänzte den anderen mit der Vielfalt seiner Eigenschaften und war ihm ebenbürtig. Sie beide waren es, die die Grenzen dieser Welt schufen innerhalb derer du dich bewegst. Grenzen, die die Welt braucht, um sich aus dem Chaos in die Ordnung zu erheben.
Die Gedankenwesen waren sich dieser Ordnung jedoch nicht bewußt. Sie erfüllten das, was sie erfüllen mußten. Sie existierten, weil sie geschaffen waren aus dem Traum des Einen. Sie wußten auch nicht, was es war, das diese Wandlung in ihrem Dasein bewirkt hatte.
So existierten der Weiße und der Schwarze Magier und ihre Wesensformen abvermals hunderte, tausende Zeitalter fort...
Da geschah es, daß sich im Innersten des Weißen und des Schwarzen Magiers der Wunsch nach endgültiger Vollkommenheit und Sinn formte. Das Sein des einen war zwar wohl in den Gedankenwesen vereinigt, doch noch war es unvollständig.
So mußte ein Wesen geschaffen werden, in dem sich ihrer beider Einzigarzigkeit in der Verschmelzung spiegelte. Etwas, das zugleich schwarz war und weiß, gut und böse, imstande Liebe zu geben und Haß zu säen. Ein Wesen, das sich seiner selbst bewußt war und dem Dasein auf dieser Erde Sinn geben konnte. Ein Wesen, das fähig war selbst zu erschaffen doch auch zu zerstören. Seine Seele gepräg von starkem Willem und tiefem Gefühl. Mit sehenden Augen und scharfen Sinnen, um die Ufer jenseits des langen Flusses erspähen zu können - Höhepunkt einer Schöpfung, Preis für das Werk und den Zauber...
Und in einer Dämmerung, als das Licht des Tages sich zurückzuziehen begann und die Nacht schon ihre sanften Schwingen ausbreitete, wurde in Verschmelzng der beiden Mächte das Wesen erschaffen, das du Mensch nennst: es war Einheit von Körper Seele und Geist - die drei Energien, die ihn zu dem machten, was er war: in seinen Eigenschaften die Polaritäten des Lebens vereinigend und trennend. Der Körper in seiner Form Schönheit oder Häßlichkeit, Stärke oder Schwäche, schwarz oder weiß. Die Seele mit der Kraft zu lieben und zu erschaffen, oder zu hassen und zu vernichten. Mit der Fähigkeit, Glück und Leid, Freude und Trauer zu fühlen. Der Geist Genialität oder Irrsinn, Kreativität oder Phantaielosigkeit. Mit der Kraft, sich aus dem trüben Sumpf zu erheben oder in ihm zu versinken.
Und dieses Wesen, Mensch genannt, hatte eine große Aufgabe, die ihn von allen anderen Formen des Lebens unterschied, eine Aufgabe, die seinem Dasein Sinn geben sollte: mit Hilfe der Kräfte des Körpers, der Seele und des Geistes die Göttlichkeit in sich zu erkennen,
den Weißen und den Schwarzen Magier in sich selbst zu sehen, sie zu lieben und mit ihnen beiden zu leben.
Er sollte die Wesen der Erde achten und respektieren, und sie nicht in den Abgrund stoßen um einer niederen Lust willen. Die Liebe sollte er finden, die die höchste Macht ist - die Liebe zu sich selbst und anderen - der Schlüssel zum Tor der Erkenntnis und der Weisheit.
Und am Ende einer langen Reise durch Raum und Zeiten, Äonen voll schaffender Träume, Gedanken und Ideen, besahen sich die beiden Mächte des Seins zufrieden die Kinder ihrer Schöpfung - geboren aus einem Zauber, der ewig ist.
(1993)
“Glaubt keinen Lehren. Glaubt auch meiner Lehre nicht.
Prüft alles selber nach.
Wägt und behaltet, was gut ist.”
(Gautama Buddha)
Prüft alles selber nach.
Wägt und behaltet, was gut ist.”
(Gautama Buddha)
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"Man sieht nur mit dem Herzen gut - das Wesentliche ist für das Auge unsichtbar"
(Antoine de Saint Exúpery)
(Antoine de Saint Exúpery)