07.09.2012, 07:11
Von Meinhard Miegel
Ist Wohlstand ohne Wachstum machbar? Nicht ganz. Etwas muss wachsen, damit der Mensch seine natürlichen Bedürfnisse befriedigen kann. Aber der eigentliche, der menschenspezifische Wohlstand, beginnt erst da, wo dieses Wachstum endet.
Wachstum und Wohlstand - Zwei Begriffe im Wandel der Zeit
Die Beantwortung der Frage, ob Wohlstand ohne Wachstum machbar ist, hängt entscheidend davon ab, was unter Wohlstand und Wachstum verstanden wird. Spätestens seit Beginn des Industriezeitalters verstehen Menschen in den früh industrialisierten Ländern unter Wohlstand vornehmlich materiellen Wohlstand, der sich im Gleichschritt mit einer Wirtschaft entwickelt, die eine ständig größer werdende Güter- und Dienstemenge bereitstellt, also wächst. Anders gewendet: Das Wachstum der Wirtschaft schlägt sich in der Mehrung materiellen Wohlstands nieder. Wachstum und Wohlstand beschreiben übereinstimmend dynamische Prozesse. Wächst die Wirtschaft nicht mehr, wird auch der Wohlstand nicht weiter gemehrt. Und daraus folgt: Nach der derzeitigen Begrifflichkeit von Wohlstand und Wachstum ist Wohlstand ohne Wachstum nicht machbar.
Zum gleichen Ergebnis, wenn auch auf anderer Grundlage, wären die Menschen der vorindustriellen Epoche gekommen. Zwar bedeutete Wohlstand für sie erst in zweiter Linie genug zu essen, ein Dach über dem Kopf und vielleicht auch ein wenig Geld zu haben. In erster Linie stand dieser Begriff für Gesundheit sowie ein gutes Verhältnis zu Mitmenschen und Gott, also Immaterielles. Aber zur Befriedigung ihrer materiellen Bedürfnisse waren sie, wie die Menschen von heute, auf Wachstum angewiesen, wenn auch nicht auf das Wachstum der Wirtschaft. Ein solches Wachstum war weithin unbekannt. Vielmehr bedeutete Wachstum für sie das Wachsen von Feldfrüchten, Vieh und Wäldern oder kurz: der Natur. Gedieh dort alles prächtig, stieg der materielle Wohlstand der Menschen und sie konnten daran gehen, ihr Dach neu zu decken oder ihre Kirche zu erweitern. Im umgekehrten Falle stagnierte oder sank ihr Wohlstand. Der Wohlstand der Menschen entwickelte sich gewissermaßen wie ein Wald, der wächst und wächst und dennoch nicht immer höher wird.
Diese unterschiedlichen Verwendungen sowohl des Wohlstands- als auch des Wachstumsbegriffs gilt es bei der Suche nach einer Antwort auf die Frage, ob Wohlstand ohne Wachstum machbar ist, im Blick zu behalten. Nicht nur hat sich die Bedeutung dieser Begriffe im Zeitablauf beträchtlich verändert. Auch ihre Verzahnung ist heute eine andere als früher. Früherer Wohlstand hing nur zum Teil von einem Wachstum ab, auf das die Menschen nur mäßigen Einfluss hatten. Sie mussten die Dinge nehmen, wie sie kamen. Nicht so beim größeren und wohl auch wichtigeren Teil ihres Wohlstands. Er war wachstumsunabhängig: Gesundheit, zwischenmenschlicher Zusammenhalt, Seelenfrieden. Dafür konnten sie etwas tun.
Auch für den Wohlstand im heutigen Sprachgebrauch, den messbaren, zählbaren, handfesten, glauben die Menschen etwas tun zu können und zwar ganz folgerichtig, indem sie das Wachstum der Wirtschaft vorantreiben. Denn deren Wachstum ist nach den Worten der Kanzlerin "der Schlüssel zum Ganzen". "Ohne Wachstum", so weiter, "keine Investitionen, keine Arbeitsplätze, keine Gelder für die Bildung, keine Hilfe für die Schwachen". Mit anderen Worten: kein Wohlstand. Das Dilemma: War schon das Wachsen in der Natur nur ein bedingt verlässlicher Garant materiellen Wohlstands, so ist es das Wachstum der Wirtschaft noch weniger.
Die Macht der Fakten: Die Grenzen von Wachstum und Wohlstand
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Nicht mehr, sondern besser: Echter Wohlstand beginnt erst dort, wo das Wachstum endet
Ließen die Menschen in den früh industrialisierten Ländern Revue passieren, wofür sie sich und die Erde geschunden und in existenzielle Bedrängnis gebracht haben, würden sie erschrecken. Das also soll es sein? Für so viel Nichtiges ändert sich das Klima, schmelzen die Polkappen, steigt der Meeresspiegel, sterben ungezählte Tier- und Pflanzenarten aus, verschlechtern sich die Lebensbedingungen von Milliarden von Menschen? Die Bilanz ist ernüchternd. In der jüngeren Menschheitsgeschichte ist etwas gründlich schief gegangen.
Wohlstand, der mit Natur und Umwelt, mit Mensch und Gesellschaft auf Dauer vereinbar ist, sieht anders aus. Ein solcher Wohlstand - das ist die größere Wertschätzung dessen, was man hat. In Gesellschaften, die ständig mit neuen Produkten und Diensten überschwemmt werden, verliert Vorhandenes schnell seinen Wert. Als Sperrmüll landet es auf der Straße, von wo zumeist Osteuropäer es in ihre Heimat verfrachten. Dort erfährt der Müll des Westens dann eine wundersame Verwandlung. Er ist nicht mehr alt und unbrauchbar, sondern willkommen und mitunter kostbar. Wie ist das möglich?
Ein solcher Wohlstand - das ist bewusst zu leben, die Sinne zu nutzen, Zeit für sich und andere zu haben, für Kinder, Familienangehörige, Freunde. Ein solcher Wohlstand - das ist Freude an der Natur, der Kunst, dem Schönen, dem Lernen; das sind menschengemäße Häuser und Städte mit Straßen und Plätzen, die die Bewohner gerne aufsuchen; das ist ein intelligentes Verkehrssystem; das ist gelegentliche Stille, das ist der sinnenfrohe Genuss des vielleicht kleiner gewordenen Schnitzels auf dem Teller; das ist die Fähigkeit des Menschen, mit sich selbst etwas anfangen zu können. Wenn viele heute erklären, für den Urlaub fehle ihnen das Geld, dann ist dies nicht nur ein monetäres, sondern auch ein mentales Armutszeugnis. Und Wohlstand, das ist nicht zuletzt die Revitalisierung der spirituell-kulturellen Dimension des Menschen, die durch das Streben nach immer größeren Gütermengen weithin verkümmert ist. Dass er nicht allein von Brot lebt, weiß der Mensch seit Langem. Aber die explosionsartige Zunahme der Zahl der Brote hat namentlich in den früh industrialisierten Ländern dieses Wissen nicht selten verschüttet.
Ist Wohlstand ohne Wachstum machbar? Nicht ganz. Etwas muss wachsen, damit der Mensch seine natürlichen Bedürfnisse befriedigen kann. Aber der eigentliche, der menschenspezifische Wohlstand, beginnt erst da, wo dieses Wachstum endet. Dies zu erkennen wird der große Paradigmenwechsel dieses Jahrhunderts sein - oder dieses Jahrhundert wird scheitern.