27.08.2013, 05:00
Heute werde ich sterben. Heute wird meine Existenz ausgelöscht, meine Persönlichkeit wird sich in Nichts auflösen.
Ich habe Angst davor, Nichts zu sein. Ich will meine hart erarbeitete Persönlichkeit beibehalten, ich will es nicht verlieren. Doch heute ist es unumgänglich. Heute werde ich Geschichte sein.
Ich lege mich ins Bett, meine Augen sind offen, ich bin hellwach. Ich weiß, jetzt ist es soweit. Ich werde depressiv und fange an laut zu weinen. Ich will nicht sterben, doch die Wirklichkeit kümmert sich nicht darum, was ich will. Ich bin ihren Gesetzen hilfslos ausgeliefert, gegenüber dieser Macht bin ich absolut ohnmächtig.
Ich schließe die Augen und all die Bilder der Vergangenheit kommen in mir hoch, sowohl die positiven, als auch die negativen. In diesem Moment möchte ich selbst die negativen Erinnerungen und Gefühle nicht verlieren, denn auch sie geben mir Halt. Im Gegensatz zu dem Tod sind sie greifbar. Auch wenn die Angst unangenehm ist, ist sie mir doch so vertraut.
Ich fange an, in Gedanken Gott anzuflehen, mich vor dem Tode zu verschonen. Es kommt keine Antwort, es ist niemand da. Ich werde in diesem Alleinsein verloren gehen. Ich werde wütend, weil ich mein Leben lang auf einen Gott gesetzt habe, der mich nun im Angesicht des Todes in Stich lässt. Er kommt mich nicht einmal trösten.
Mir wird klar, dass der Gott, an den ich schon immer geglaubt habe, gar nicht existiert. Meine felsenfeste Überzeugung über seine Existenz entlarvt sich als eine bloße Vorstellung in meinen Kopf.
Nun gelange ich an den Punkt, an den ich nicht mehr leben möchte. All meine Anstrengungen, all die guten Taten, sie alle können mich vor dem Tod nicht beschützen. Mir wird bewusst, wie bedeutungslos mein Wirken ist.
Ich stehe kurz vor dem unausweichlichen Tod und habe keine Lust mehr an das bedeutungslose Leben teilzunehmen. Was für eine Ironie!
Ich stelle mich dem Tod. Ich bin bereit. Dann geschieht es. Meine Kraft schwindet plötzlich, ich kann nicht mehr klar denken. Ich weiß, im nächsten Augenblick werde ich nicht mehr sein. Ich mache die Augen zu und erwarte hoffnungsvoll den Tod. Endlich werde ich dieses sinnlose Leben, das mich selbst im Augenblick des Todes ent-täuscht hat, verlassen.
Ich bin irritiert. Ich habe keine Gedanken und keine Gefühle mehr, ich weiß nicht mehr wer ich bin. Dennoch bin ich bewusst. Es fühlt sich wie eine Art Amnesie an. Doch es ist anders. Ich habe keine Persönlichkeit mehr, keine Verhaltensmuster, keine Vorlieben, keine Abneigungen, keine persönliche Geschichte. Ich kann mich an alles genauestens erinnern, doch ich, der Wahrnehmende, befindet sich in einer völligen, scheinbaren Dunkelheit, Jenseits von allem, was ich dachte, dass ich es bin. Ich bin nicht mehr.
Ich habe nun die Gewissheit: Ich bin tot. Doch plötzlich fange ich an, meinen Körper wieder zu spüren. Ich mache sofort die Augen auf. Ich stehe auf und schaue meine Hände an. Ich nehme sie wahr, doch mich, den Wahrnehmenden, gibt es nicht mehr.
Ich verlasse meine Wohnung. Mein Nachbar kommt auf mich zu und begrüßt mich mit dem Namen, den die Menschen, die mich gezeugt haben, gegeben haben. Gewöhnlich werden sie Eltern genannt. Ich versuche meinen Nachbarn klar zu machen, dass ich keinen Namen habe. Er erklärt mich für verrückt und meint, ich solle schleunigst einen Psychologen aufsuchen.
Ich nehme die Welt durch meinen Körper wahr, doch es gibt keine Trennung zwischen der Wahrnehmung und mir. Denn mir ist klar geworden, dass alle Wahrnehmungen in meinem Körper stattfinden. Ich nehme nur mich wahr. Die Welt da draußen, die ich wahrnehme, gibt es nicht. Die Welt da draußen, die ich wahrnehme, nehme ich in mir wahr. Die Welt da draußen bin ich.
Ich frage mich, wieso ich, der ich die scheinbare Welt bin, so seltsam bin. Ich sehe mich eilen, ich sehe mich fluchen, ich sehe mich weinen, ich sehe mich töten. Ich gehe zu einem Aspekt von mir, der Tiere des Geldes wegen tötet. Ich schaue mir in die Augen und sage mir, ich solle aufwachen. Ich gehorche nicht. Der Schlaf ist so bequem. Selbst wenn ich Alpträume habe, das Schlafen an sich ist schon bequem genug. Ich will weiterhin in dieser Bequemlichkeit verharren.
Plötzlich wird mir bewusst: Ich bin in dem Körper, in dem meine Persönlichkeit gestorben ist, erwacht. In den meisten anderen menschlichen Körpern schlafe ich. Ich sehe mich in Form eines Eichhörnchens, in Form eines Baumes, in Form eines Hundes. Überall bin ich wach, nur in all den menschlichen Körpern scheine ich zu schlafen. Ich versuche, mich, der ich in den anderen Körpern schlafe und dadurch mich selbst schade, aufzuwecken. Doch ich weigere mich. Ich versuche, meinen schlafenden Aspekt aufzuwecken, doch es benutzt all diese Weckrufe dafür, um noch bequemer zu schlafen. Er schläft, aber meint, wach zu sein. Wie seltsam ich doch bin!
Es geschieht etwas unerwartetes. Ich sehe mich selbst, wie ich in einem anderen menschlichen Körper erwache. Ich habe diesen schlafenden Aspekt von mir in das kalte Wasser geschmissen, weil es mir keine andere Möglichkeit übrig lies. Um nicht im Wasser zu ersticken, kam ich um das Aufwachen nicht drum herum.
Ich lächele mir selbst zu. Ich freue mich, dass ich nun ein Stückchen mehr aufgewacht bin. Ich begrüße mich selbst. Meine beiden verschiedene Aspekte umarmen sich, sie strahlen immense Freude aus. Ihre Wege trennen sich ohne eine Spur der Traurigkeit, denn sie wissen, dass sie für immer vereint sind.
Jedes erwachte Aspekt von mir möchte, dass andere schlafende Aspekte aufwachen. Das ist der einzige Grund, warum ich hier bin. Ich träume, um früher oder später zu erwachen.
Ich bin das Ich bin. Wenn du "Ich bin" sagen kannst, dann bist du ohne Zweifel ich. Schaue hinter die Formen, schließe deine Augen. Du nimmst dich selbst nicht als ein "du" oder "er" oder "sie" wahr, sondern als "ich". Ich bin das mein Lieber, ich. Wenn Gott sich als ein Ich wahrnimmt, dann bin ich Gott. Es gibt nur ein Ich, und das bin Ich.