02.05.2014, 04:00
Warum Fragen uns weiter bringen als Antworten
Unser Verstand ist darauf gedrillt, Antworten auf alle Fragen des Lebens zu geben, um uns Sicherheit in einer Welt der Unsicherheit zu verschaffen. Dass er an dieser Aufgabe ständig scheitert, hindert ihn nicht daran, es immer wieder zu versuchen. Wirklich Neues, Spannendes, Revolutionäres kommt dabei nicht heraus, da er bei seinen Bemühungen immer nur auf Bekanntes, auf alte Erfahrungen zurückgreifen kann. Damit das Neue Einzug in unser Leben halten kann, plädiert der israelische spirituelle Lehrer Shay Tubali dafür, erst einmal nur den Fragen in sich Raum zu geben – ohne nach Antworten zu suchen.
Lass uns ein kleines Experiment machen: Ich stelle dir die Frage “Was ist Liebe?”, und du schaust dir an, was dir spontan dazu einfällt. Wie kann man diese Frage überhaupt beantworten? Nun, das Gehirn kramt dafür als Allererstes in seinen Schubladen und versucht etwas zu finden, das es bereits weiß, irgendeine schon vorhandene gedankliche Verbindung aus Büchern oder Schriften, aus früheren Erfahrungen, aus kulturellen Prägungen etc. Das Gehirn benutzt eine Frage also in erster Linie, um sich Wissen anzueignen oder um sich an bereits bestehendes Wissen zu erinnern. Wenn das Gehirn keine Antwort hat, wendet sein Besitzer sich vielleicht an einen Guru oder an eine andere Autoritätsperson und fragt dann diese Person: „Was ist Liebe?“. Die erhaltene Antwort wird dann zu einem weiteren Gedanken, der abgespeichert wird.
Das Gehirn ist wirklich sehr gut darin, Wissen zu sammeln, aber es ist ziemlich schlecht darin, sich unnötigen Wissens zu entledigen, selbst wenn dieses nichts als eine Bürde ist. Uns kommt es ganz normal vor, dass unsere Nahrung im Körper größtenteils zu Abfall umgewandelt und ausgeschieden wird, dass also nur lebenswichtige Stoffe im System verbleiben. Wie könnten wir sonst Platz für weitere Mahlzeiten haben? Aber in Bezug auf das Gehirn kommt uns Reinigung nicht nötig vor. Von Natur aus aber lässt das Gehirn Vergangenes nicht los, es ist deshalb der Gefahr des Verfalls ausgesetzt. Man kann dies oft an den Gehirnen alter Menschen sehen - ein altes Gehirn ist wie ein geschlossener Kreislauf aus Geschichten, sich wiederholenden Aussagen und „Lebenserfahrungen“, die sich wieder und wieder selbst bestätigen. Es gibt nur ganz wenig Raum für das Neue – wenn überhaupt.
Säcke voll Vergangenheit
Wir Menschen bestehen aus unserer Vergangenheit. Wir sind wie prall mit Vergangenheit gefüllte Säcke und betrachten als solche die Welt. Dabei sollten wir im Idealfall doch immer einen frischen Blick haben, den Blick auf das Jetzt. Einst hat ein Schüler des Philosophen Jiddu Krishnamurti seinen Lehrer nach den Widersprüchen zwischen dessen Lehren von vor dreißig Jahren und seinen neueren Lehren gefragt. Er bekam eine verblüffende Antwort: “Kannst du dir diese dreißig Jahre aus dem Jetzt heraus ansehen, statt aus der Perspektive dieser 30 Jahre?” Wir sind so daran gewöhnt, die Gegenwart aus der Perspektive eines zeitlichen Kontinuums zu betrachten, dass wir dem Unbekannten kaum begegnen. Deshalb lehnen Menschen tendenziell neue Ideen automatisch ab und sind erst nach einiger Zeit dazu bereit, sie sich tatsächlich anzusehen.
Das zeigt sich besonders bei spirituell interessierten Menschen. Es liegt in der Natur der Sache, dass der spirituelle Weg in den Bereich des Mysteriösen führt. Mit der Zeit aber sammelt der Suchende so viele Ideen, Konzepte, Zitate und Erfahrungen an, dass er irgendwann „erfahren“ ist und ein „Wissender“. Dabei vergisst er, dass ein echter spiritueller Weg den Suchenden immer wieder an den Anfangspunkt zurückbringen muss.
Jiddu Krishnamurti hat mir beigebracht, bei einer Frage zu bleiben, statt sofort nach der Antwort zu suchen, und so das ganze Potential einer Frage zu erwecken. Er hat mich gelehrt, dass ein Fragezeichen eine kosmische Kraft ist, die uns in das Reich des Unbekannten zieht. In seinen fesselnden Dialogen brachte er Gesprächspartner dazu, eine Frage in ihrem Geist zu halten, als wäre sie eine Kraft, die alle Vergangenheit und alle Illusionen entfernen könnte. Für Krishnamurti waren Fragen nicht Mittel, um Wissen zu horten, sondern Werkzeuge der Befreiung. Selbst im Alter von über 80 Jahren fragte er mit Leidenschaft: “Was ist der Sinn des Lebens?” oder “Was ist Meditation?” und ließ keine Antwort gelten. Die Frage im Geist zu halten, so insistierte er, aktiviere ihre enorm verändernde Kraft. Sie transformiert den Fragenden und schafft alle vorgefertigten Annahmen weg. Schließlich löst sich die Grenze zwischen dem Fragenden und dem Objekt seiner Frage auf und eine bestimmte Qualität des Geistes und des Seins tritt hervor, etwas, das stets unbekannt, stets neu ist. Aus der Frage „Was ist Meditation?“ wird so eine echte Meditation; die Antwort wird im Herzen der Frage gefunden.
Fragen zeigen das Konditionierte auf
Jahrelang habe ich versucht zu verstehen, was Krishnamurti erreichen wollte; warum er eine Diskussion mit einer Frage begann, dann alle Antworten ablehnte und die Frage wiederholte, ohne auch nur zu der kleinsten Schlussfolgerung gelangt zu sein. Er war nicht wie andere spirituelle Lehrer, die gerne Antworten gaben. Für ihn war eine Frage eine hell brennende Fackel, deren Licht auf die Strukturen unserer Erinnerungen und unsere automatischen Antworten fiel. Sie zeigte das Konditionierte und Bekannte auf. Wenn ich dich also frage: “Was ist Liebe?”, dann wäre Krishnamurtis Rat: Suche nicht sofort nach einer Antwort, sondern nutze die Frage, um dir anzusehen, wie das Gehirn auf sie reagiert. Ein „Problem“ ist immer das Ergebnis davon, wie wir mit einer bestimmten Situation umgehen; wenn wir unsere Herangehensweise ändern, löst sich das „Problem“ auf wundersame Weise auf.
Dabei gibt es einen interessanten Punkt: Wenn ich mich bei einem solchen Prozess den gewohnten Pfaden des Denkens verweigere, passiert im Gehirn etwas Erstaunliches. Die alten Bahnen des Gehirns verlieren ihre Bedeutung und zerfallen deshalb allmählich. Diese Dynamik, die man körperlich spüren kann, wurde von Krishnamurti als „Transmutation des Gehirns“ bezeichnet. Er ging davon aus, dass in einem solchen Prozess Erinnerungszellen zerstört werden und sich neue Zellen bilden. Das Gehirn ändert so seine Rolle, es kommt weg von der traditionellen Rolle des Denkers und entwickelt sich zu einem ganzheitlichen Zuhörer. Der bemerkenswerte Physiker David Bohm, der sich mit Krishnamurti im Dialog befand, glaubte, dass diese Transmutation eine realistische Möglichkeit war, und entwickelte auf dieser Basis den „Bohm-Dialog“. Bei einer Transmutation wird das Gedächtnis nicht beschädigt – im Gegenteil, das Gehirn funktioniert wahrscheinlich sogar besser, da der Prozess einen Teil der natürlich voranschreitenden Degeneration verhindert. Beschädigt werden nur die „psychologischen“ Erinnerungen und jenes Wissen, das zwischen uns und der lebendigen Wahrheit steht, die immer im Jetzt existiert, im ewig Unbekannten.
Das Gehirn sucht nach Bestätigung
Natürlich geht das gegen die normalen Instinkte des Gehirns. Das Gehirn tut alles in seiner Macht Stehende, um dem Organismus ein Gefühl sicherer Kenntnis zu geben, das sich aus erworbenem Wissen speist und sich immer wieder selbst bestätigt. Der menschliche Organismus will wissen, was er tun soll und wie er in jeder beliebigen Situation reagieren sollte. Das ist durchaus angebracht, wenn es um eine Situation geht, in der man zum Beispiel von einem wütenden Löwen angegriffen wird, aber im Bereich des Geistigen bringt zu viel Wissen die Gefahr von Stagnation mit sich. Im Falle von Spiritualität, Intelligenz und Kreativität schränkt die Arroganz des Wissenden die Möglichkeit neuer Erkenntnisse und tieferer Einsichten ein. In Krishnamurtis Worten: Ein Mensch, der sich allzu sicher ist, ist als menschliches Wesen tot.
Bei kreativen Prozessen verstehen die meisten Menschen, dass es wichtig ist, dem Unbekannten Raum zu geben. Immerhin ist Kreativität ein nicht-linearer Prozess, bei dem ein bestehendes Muster durchbrochen und so etwas geschaffen wird, das es bis dahin noch nicht gab. In Bereich des Spirituellen nimmt man dagegen oft selbstverständlich an, dass alles große Wissen aus der Vergangenheit kommt, dass Wissen Tradition und Erbe bedeutet und dass man dieses Wissen immer und immer wieder wiederholen und sich daran erinnern muss. Darum sind die Schüler spiritueller Traditionen und Religionen stolz darauf, dass ihr Wissen „alt“ ist, tausende Jahre alt, und daher „ewig“. Zwischen dem „Ewigen“ und dem „Neuen“ wird ein Unterschied gemacht. Für mich – und auch für Krishnamurti – liegt es jedoch in der Natur der Wahrheit, dass sie immer neu ist.
So habe ich mich also in ein Fragezeichen verliebt und überlasse mich seiner Führung, ohne je nach einer endgültigen Antwort, einer letzten Schlussfolgerung zu streben oder nach einem Wissen, das sich in einem einzigen Satz oder Absatz aufsummieren lässt.
Wandelnde Fragezeichen des Kosmos
Im Fragen steckt die Lehre, dass wir niemals aufhören sollten uns zu entwickeln, dass wir selbst wie wandelnde Fragezeichen des Kosmos sein sollten - nicht auf eine zwanghafte, sondern auf eine beglückende Weise. “Man muss immer Fragen stellen, zu denen es keine Antwort gibt”, hat Krishnamurti gesagt, und genau das ist der Punkt, an dem echter wissenschaftlicher Geist und echter religiöser Geist sich zu vereinen scheinen, da Wissenschaft ein immer währendes Konstruieren und Dekonstruieren bedeutet und Religion das Ewige ist. In ihrer Vereinigung bringen die beiden uns dazu, uns immer weiter und weiter in die Tiefen der Geheimnisse des Lebens und des Selbst zu versenken.
Als Übung kannst du versuchen, mit einer bestimmten Frage zu spielen, am besten mit einer großen Frage, die über deine persönlichen Interessen hinausgeht und dich mit dem Aspekt des großen Unbekannten im Leben verbindet. Zum Beispiel „Was ist der Tod?“ oder „Wer ist Gott?“ oder sogar „Gibt es einen Gott?“ (nimm nur die Fragen, die dich wirklich anziehen). Schreibe als Nächstes jede Antwort auf, die dir in den Sinn kommt. Gehe dabei wirklich an deine Grenzen, höre nicht auf, bis alle bekannten Pfade deines Denkens abgegangen worden sind und dein Gehirn „stoppt“. Schreib alle deine inneren Widersprüche zu der Frage auf, alle widersprüchlichen Gefühle, auch bereits bestehende Annahmen und Aussprüche von anderen, als würdest du das alles in ein Feuer werfen. In dem Moment, in dem das Gehirn still wird, fange zu meditieren an. Alle paar Minuten stelle die Fragen noch einmal, ohne nach einer sofortigen und schlüssigen Antwort zu suchen. Lass es dir ein Genuss sein, diese Frage in deinem Geist zu halten, und erlaube ihr, dich langsam in die in ihr verborgenen geheimnisvollen Räume zu leiten.
quelle:sein.de