23.03.2012, 16:07
Der Psychologe Carl Rogers ist vielen als ein Pionier der klientenzentrierten Gesprächstherapie und humanistischen Psychologie bekannt. Er betonte die Einzigartigkeit des Individuums und die Bedeutung wirklicher Begegnung und Empathie - sowohl in der Therapie, als auch in Beziehungen und der Familie. Rogers entwickelte die sogenannten Encounter-Gruppen maßgeblich weiter, die heute fester Bestandteil vieler Therapien und Seminare sind.
Zerfall und Neubeginn
Aber Rogers machte sich auch tiefe Gedanken um die Gesellschaft als Ganzes, die heute aktueller denn je scheinen. Rogers sah bereits um 1980 deutliche Tendenzen für den Zerfall der westlichen Kultur, glaubte aber gleichzeitig auch an die Vision, dass sich dadurch eine neue, menschlichere Gesellschaft, hervorgebracht durch einen bewussteren Menschen bilden könnte:
"So glaube ich auch, dass unter unserer zerfallenen Kultur neues Leben keimt, ja eine neue Revolution sich abzeichnet. Ich sehe diese Revolution nicht durch eine große organisierte Bewegung kommen, nicht durch eine gewehrtragende Armee mit Fahnen, nicht durch Manifeste und Deklarationen, sondern durch die Entstehung eines neuen Menschen, der ... durch die ... Institutionen nach oben drängt." (Rogers, C. / Rosenberg, R.: Die Person als Mittelpunkt der Wirklichkeit 1980; Seite 201f)
Rogers macht klar, dass es sich bei dieser Annahme (seiner Vision) nicht, wie bei seinen anderen Arbeiten und Theorien, um empirische Wissenschaft handelt, sondern vielmehr um persönliche Beobachtungen, resultierend aus Zusammenkünften mit diversen, ganz verschiedenen Gruppen und Menschen, die alle bestimmte Eigenschaften zu teilen scheinen, die Rodgers als Eigenschaften des "neuen Menschen" verstand. Er wäre sich vielleicht noch sicherer gewesen, hätte er die aktuellen Entwicklungen noch miterlebt.
Was macht ihn also aus, diesen neuen Menschen, den Rodgers in so vielen unterschiedlichen Formen antraf?
Die Eigenschaften des Neuen Menschen
Der Wunsch nach Authentizität
Der neue Mensch legt größten Wert auf Authentizität. Damit ist gemeint, daß er in der Kommunikation mit anderen Menschen danach strebt, aufrichtig und ehrlich ihnen gegenüber zu sein. Dabei spielen für ihn Gefühle, Gesten, Sprache und Körperbewegung eine gleichrangige Rolle und vermitteln demzufolge die gleiche Botschaft.
Aufgewachsen in einer Kultur der Heuchelei, der doppelbödigen Botschaften, der vorsätzlichen Täuschung durch Eltern, Lehrer, der Wirtschaft und auch der Politiker, strebt er nun danach, interpersonale Beziehungen herzustellen.
In diesen interpersonalen Beziehungen ist die Kommunikation echt und offen, nicht vorgetäuscht und doppelsinnig. Dabei macht er große Fortschritte im Hinblick auf seine Offenheit etwa sexuellen Beziehungen gegenüber. Er muß kein geheimes Doppelleben führen. Auch mit seinen Ansichten, was z. B. die politischen, pädagogischen, didaktischen Einstellungen betrifft, „hält er nicht hinterm Berg“. Er tut seine Meinung offen kund, anstatt nur den Eindruck zu erwecken, er würde, da er still ist, zustimmen. Er kann mit Konflikten umgehen. Er kann in Situationen zu seiner Überzeugung, zu sich selbst stehen, in denen Andere schweigen, sich selbst und ihre Überzeugungen verleugnen würden.
In all diesen Beziehungen ist der neue Mensch also echt - er ist er selbst.
Institutionen sind für den Menschen da
Der neue Mensch ist der Überzeugung, daß Institutionen für den Menschen - und nicht umgekehrt - da sind.
Er hat eine Abneigung gegen alle hochstrukturierten, unflexiblen und bürokratischen Einrichtungen. Dies gilt z. B. für die Kirche, die Politik, dem Militär, Wirtschaft und Schule. Selbst die Ehe wird als Institution angesehen. Er sieht nicht ein, daß Regeln der Regeln willen, die Form der Form willen und Befehle der Befehle willen ausgeführt werden müssen. Er stellt ihre formale Struktur in Frage, sieht nicht ein, ihr zu folgen, wenn sie veralteten Wertvorstellungen entsprechen und / oder keinem humanen Zweck dient. So stellt er außerdem ihre Starrheit in Frage, denn da er sich stets in einem Prozeß der Veränderung befindet, müßten sich die Institutionen doch ebenfalls in einem stetigen Prozeß der Veränderung befinden, wollten sie zum Nutzen des Menschen sein und nicht stetig den Bedürfnissen des Menschen „hinterher hinken“. Wie verhält sich der neue Mensch nun aber in den Institutionen und ihnen gegenüber und welche Tendenzen sind beispielsweise erkennbar?
Ehe sich diese Menschen einem Diktat unterwerfen, welches ihnen bedeutungslos erscheint, verlassen z. B. Professoren die Universität, leitende Angestellte die Firma, Priester und Gläubige die Kirche. Sie alle stehen zu ihrer Einstellung und leben sie auch aus. Die Ehe, als Institution betrachtet, wird von vielen Paaren aufgegeben oder nicht als Ritual mit rechtlichen Folgen vollzogen. Denn man glaubt, daß eine eheähnliche Beziehung (homo- oder heterosexuell) nur dann Bedeutung hat, wenn gegenseitiges Vertrauen und gegenseitige Liebe vorhanden ist, nicht lediglich eine alte Zeremonie zur Geltung kommt, „gesegnet“ von Kirche und Staat. Diesen überholten traditionellen Regeln mißt man einfach keine Bedeutung mehr bei.
So ist letztendlich eine Tendenz zu beobachten, hin zu kleinen, informellen, nicht hierarchischen Gruppen. Freie Schulen und Kindergärten werden gegründet, ehemalige leitende Angestellte gründen eigene kleine Unternehmen, Wohngemeinschaften werden gegründet. Ihnen ist gemein, daß sie alle in Beziehungen existieren, die direkt und unmittelbar, also persönlich und von ihrer Struktur und Autorität her ihren Beziehungen untergeordnet sind. Ihr Gemeinschaftssinn, nicht Autorität oder Starrsinn, ist stark ausgeprägt.
Andere Menschen versuchen, die Institutionen von innen her zu humanisieren, zu reformieren. So werden beispielsweise sinnlose Regeln mißachtet. Gemeint ist aber auch, daß in Firmen und Fabriken (teilweise unterstützt durch deren Leitung) kleine Teams gebildet werden, in denen versucht wird, gemeinsame Lösungsmöglichkeiten, für Probleme im Produktionsablauf etwa, zu erarbeiten. So können die „niedriggestellteren“ Angestellten und Arbeiter auch zeigen, daß sie nicht lediglich ein kleines Rad im Getriebe der Institution darstellen, welches nur zu funktionieren hat. Sondern gleichzeitig drücken sie so aus, daß sie selbstgesteuerte Menschen mit eigenen Ideen und vielleicht sogar besseren Lösungsvorschlägen sind.
Auch in der Politik neigen mittlerweile manche dazu einen humaneren Ansatz (wie etwa die Partizipation des Bürgers), zu formulieren. Sie sehen ebenfalls ein, daß die Institutionen mehr zum Bürger hin geöffnet werden müssen. Dies setzt aber gleichzeitig voraus, daß die Politiker es auch zulassen, sich selbst nach außen (und nach innen) hin zu öffnen. Dies würde bedeuten, daß sich ein authentischer Mensch (nicht Politiker) dem Bürger öffnen und so auch die Unterstützung seiner Wähler suchen würde. - Unschwer sich vorzustellen, daß er diese Unterstützung erhalten würde.
Bedeutungslosigkeit materieller Dinge
Der neue Mensch ist zwar in einer Wohlstandsgesellschaft aufgewachsen und ist demzufolge auch daran gewöhnt, deren Errungenschaften und Bequemlichkeiten zu nutzen. Dies alles spielt aber eine sekundäre Rolle in seinem Leben, er ist nicht auf sie angewiesen. Geldanhäufung, materielle Statussymbole, und Luxus sie sind nicht seine Hauptziele, sie sind ihm gleichgültig. Der neue Mensch verwendet sein Geld für konstruktive persönliche und soziale Zwecke und versucht so, sein Leben für sich persönlich sinnvoller zu gestalten.
Nicht-moralisierende Besorgnis
Der neue Mensch hat den Wunsch, sowohl anderen, als auch der Gesellschaft zu helfen. Er ist zutiefst mißtrauisch gegenüber „professionellen Helfern“, wie z. B. Psychiatern und Sozialarbeitern. Diese nehmen zum Einen Geld für ihre Hilfe und zum Anderen verstecken sie sich hinter einer professionellen Fassade. Er lehnt die diagnostizierende, wertende, interpretative, strafende und auf Vorschriften beruhende Hilfe ab.
Der neue Mensch hingegen, hilft freiwillig und ohne dafür Geld zu verlangen. Er hilft in spontanen Notsituationen. Dabei engagiert er sich, ohne sich aufzudrängen, ohne Moral zu predigen, ohne zu belehren und ohne Vorwürfe zu machen. Der Mensch, dem geholfen wird, wird respektiert.
Der Wunsch nach Intimität
Der neue Mensch sucht nach neuen Formen der Gemeinschaft (außerhalb von Familie und Verwandtschaft), die ihm Nähe, Intimität und Gemeinsamkeit bieten können. In ihnen sucht er neue Formen der Kommunikation, verbal, nonverbal, emotional und intellektuell.
Er ist sich bewußt, daß er aufgrund unserer mobilen Gesellschaft nicht lange in einer Gemeinschaft verbringen kann, weshalb er imstande sein muß, schnell intime, kommunikative und persönliche Kontakte zu knüpfen. Genauso muß er imstande sein, diese Gemeinschaft ohne heftige Konflikte oder Trauer wieder aufgeben zu können, um eine neue aufzubauen. (Vgl. auch Sennett, R.: Der flexible Mensch 2000 - Hier wird diese weitreichende Problematik unserer kapitalistischen, mobilen Gesellschaft meines Erachtens sehr gut dargestellt.)
Skepsis gegenüber der Wissenschaft
Der neue Mensch hat ein tiefes Mißtrauen gegenüber einer kognitiv orientierten, abstrahierenden Wissenschaft und einer Technologie, die sich dieser Wissenschaft bedient, um dadurch Mensch und Natur zu erobern, zu beherrschen und zu mißbrauchen.
Er glaubt, daß eine Wissenschaft auch Gefühle mit einbeziehen muß. Diese Wissenschaft sollte humanistischen Zwecken dienen. Hierfür setzt sich der neue Mensch auch ein. Zudem zeigt er Interesse an „alten Wissenschaften“. Aber auch moderne Erkenntnisse und Techniken zur Erweiterung der Selbstwahrnehmung und zur Verhaltensänderung werden praktiziert.
Man kann also nicht sagen, daß der neue Mensch dem allgemeinen Fortschritt gegenüber verschlossen wäre. Auch er strebt nach der Wahrheit, der Erkenntnis und der Vervollkommnung. Er ist ebenfalls auf der Suche nach einem Sinn, aber ohne fertige Antworten. Dabei ist er bemüht, immer mehr über seine äußere und innere Welt zu erforschen und zu erschließen.
Die innere Welt
Der neue Mensch ist ein bewußter Mensch. Er hat den tiefen Wunsch, seine innere Welt zu erforschen. Er ist bereit, sich selbst wahrzunehmen, seine eigenen Gefühle und Stimmungen. Dabei ist er fähig, mit sich selbst frei und ohne Furcht zu kommunizieren. Im Gegensatz zu früheren Generationen ist seine Hemmschwelle, eventuelle Verdrängungsprozesse im Bewußtsein auszuloten, viel geringer.
Er ist davon überzeugt, daß es noch viele unentdeckte Bereiche und Möglichkeiten im Menschen gibt, die zu erschließen es einer Offenheit hin zu einer Vielzahl von weiteren Gebieten, Methoden und Haltungen der Bewußtseinserweiterung benötigt.
Im Gleichklang mit der Natur
Der neue Mensch respektiert die Natur und lernt, mit ihr im Gleichklang zu leben. Ihre Eroberung, Verpestung und Zerstörung ist ihm zuwider.
Eine Person in der Entwicklung
Der neue Mensch befindet sich in einem steten spontanen, lebendigen und auch risikofreudigen Prozeß. Sein Leben, mit all seinen Vorlieben und Abneigungen, ist abenteuerlustig und leidenschaftlich. Da er sich also ständig selber weiterentwickelt, kann er auch nicht verstehen und einsehen, daß alles andere um ihn herum beim Alten bleiben muß: die gesamten Symptome, die bereits im letzten Kapitel genannt wurden, müssen sich ändern. Dazu will der neue Mensch beitragen - und zwar sofort.
Die innere Autorität
Der neue Mensch vertraut seinen eigenen gewonnenen Erfahrungen und mißtraut somit jeder äußeren Autorität. So kann ihn niemand von etwas überzeugen, was er nicht aus seiner eigenen Erfahrung gewonnen hat. So kommt es, daß er sich oft ungehorsam gibt, wenn ihm z. B. Gesetze unvernünftig und ungerecht erscheinen. Die Folgen, die sich für ihn daraus ergeben, nimmt er billigend in Kauf.
Hier weiß sich der neue Mensch nicht allein, gibt es doch tausende, die z. B. den Kriegsdienst verweigern, die für ihr Anliegen auf die Straße gehen. Sein moralisches Urteil, seine Fähigkeit, durch gewonnene Erfahrungen Falsches von Richtigem zu unterscheiden, dessen ist er sich bewußt - bewußt, seiner inneren Autorität zu vertrauen.
Der neue Mensch und die neue Gesellschaft
Rogers ist sich im Klaren darüber, daß nur wenige dieser neuen Menschen die gesamten oben genannten Eigenschaften auf sich vereinigen und daß es sich dabei auch nur um eine kleine Minderheit in der gesamten Bevölkerung handelt. Dennoch ist er der Meinung, daß diese Personen im Vergleich zu ihrer Anzahl einen unverhältnismäßig großen Einfluß für die Gestaltung der Zukunft ausüben könnten.
Auch ist ihm klar, daß, wenn man die Geschichte Revue passieren läßt, dieser neue Mensch eigentlich zum Aussterben verdammt wäre. Kein Typus von Mensch in der Geschichte entsprach diesem neuen Menschenbild, geschweige denn, daß dessen Eigenschaften jemals vorherrschten. - Ja, nicht einmal in diese (heutige) Zeit mit ihrer dahinsiechenden Kultur paßt er so richtig.
Und eben diese dahinsiechende Kultur ist es auch, die der Entwicklung des neuen Menschen als weiteres Hindernis (noch) gegenübersteht.
Diese Kultur, diese Gesellschaft in ihrer überwältigen Mehrheit, repräsentiert sich als zutiefst kognitiv und rational in ihrem Denken, repressiv, intolerant und militant Andersdenkenden gegenüber, ideologisch „verfestigt“ und demzufolge starr bzw. mißtrauisch, was Veränderungen betrifft. Sie will den Status Quo erhalten, da ihr Veränderungen suspekt sind. Sie lösen nur Angst und Furcht bei ihr aus. Und diese Auslöser müssen nach Möglichkeit unterdrückt und zum Stillschweigen gebracht werden.
Der neue Mensch - ein stiller Revolutionär
Rogers Meinung ist, daß neue Werte, ausgelebt durch den neuen Menschen inmitten einer rigiden Gesellschaft, die revolutionärste Tat eines Menschen überhaupt sei.
Diese revolutionäre Tat, diese stille Revolution, kommend aus dem Inneren des neuen Menschen, läßt sich nicht so einfach unterdrücken und zunichte machen. Zwar könne die Gesellschaft versuchen, diese Revolution zu unterdrücken und zu verlangsamen, aber dies käme lediglich einem Aufschub gleich. Denn „ein Gärungsprozeß ist in Gang gesetzt worden. Es wird schwierig sein, diesen Geist wieder in die Flasche zurückzubringen.“
http://carlrogers.de