16.06.2012, 00:54
Kosmisch denken, kosmisch lehren, kosmisch handeln
1. Vorbemerkungen
"Diese Art des erzieherischen Umgangs mit Kindern unterscheidet sich von den sonst in Schulen gebräuchlichen. Die Grundidee ist, wie oben erwähnt, die, die Imagination des Kindes zu wecken und ihm eine Vision von der Ordnung der Dinge zu vermitteln. ........ Um das Interesse der Kinder zu wecken, muss ihnen zunächst die Wechselbeziehung der Dinge dieser Welt deutlich gemacht werden - die verschiedenen Aspekte von Erkenntnis, die untersucht werden können, die Art und Weise, wie sie zueinander in Beziehung stehen oder zustande kommen." (Mario Montessori jr., Erziehung zum Menschen, S.138f.)
Wenn ich Mario Montessori jr. richtig verstehe, dann lässt sich behaupten: Eine Montessori-Lehrerin ist immer eine kosmische Lehrerin. Darauf möchte ich meinen Artikel gerne beziehen.
Im Untertitel stehen "Schule - Gesellschaft - Welt" in einer gedanklichen Reihe. Vielleicht klingt es in manchen Ohren eigenartig, die Welt von Seiten der Pädagogik her verändern zu wollen. Ich habe diese Reihenfolge jedoch ganz bewusst gewählt.
Natürlich ist Schule Teil der Gesellschaft, doch kann hier Veränderung immer anders gedacht und verwirklicht werden, weil sie, obwohl sie auch Spiegel der Gesellschaft ist, auch immer einen geschützten Rahmen innerhalb dieser darstellt.
Ein zweiter Grund für diese Reihenfolge besteht für mich darin, dass viele Erfahrungen sozialen Zusammenlebens in der Schule und im Kindergarten erlebt und eingeübt werden. Natürlich spielt bei der Entwicklung von Sicherheit und Selbstbewusstsein auch das Elternhaus und die wirtschaftliche Situation eine Rolle. In meiner Tätigkeit als Montessori-Dozentin, Trainerin und Coach erlebe ich jedoch tagtäglich bei Erwachsenen, wie prägend die Erlebnisse aus der Kindergarten- und Schulzeit bis in das weit fortgeschrittene Alter sind.
Und der dritte Grund für diese Reihung ist Maria Montessori selber. Ich denke, dass sie ihrem Buch "Erziehung für eine neue Welt" den Titel nicht per Zufall gegeben hat. Und hier sind wir nun schon mitten in der Kosmischen Theorie …
Da es zu dieser in der Zwischenzeit auch einige Veröffentlichungen im deutschsprachigen Raum gibt, möchte ich in diesem Artikel nur insoweit darauf eingehen, wie es mit der konkreten Fragestellung zu tun hat.
2. Kosmisch denken - wie geht denn das?
Wenn Mario Montessori in dem eingangs geschriebenen Zitat die Montessori-Pädagogin als kosmische Pädagogin postuliert, stellt sich die Frage, wie Menschen, die noch nicht das Glück hatten mit Montessori-Pädagogik aufzuwachsen, ihre kosmische Basis entwickeln können. In diesem Kapitel geht's also um den Erwachsenen, dessen Haltung und Einstellung und um die Frage, wie das "Kosmische" in uns entwickelt werden kann oder wie wir es neu in unserem Leben installieren.
Kosmisch zu denken bedeutet, dass wir eine Ordnung hinter allem wahrnehmen können. Wie diese Ordnung im Einzelnen aussieht hängt jedoch von der jeweiligen Weltanschauung der Pädagogin ab. Montessori-Pädagogik ist in meinen Augen transkonfessionell und transnational - sie sprengt aus ihrem Wesen heraus solche Grenzen. Was ich damit meine ist, dass Montessori-Pädagogik in verschiedenen Gegenden der Erde, mit verschiedenen Konfessionen, über alle Grenzen hinweg gelebt werden kann. Montessori-PädagogInnen orientieren sich am Kind und seiner Entwicklung, gleichgültig in welcher Gegend der Welt sie sich befinden, gleichgültig welche Religion wir haben oder aus welchem religiösen Hintergrund unsere Kinder stammen. Das Wesensmerkmal in all diesen Fragen ist der Respekt vor jedem Menschen als Person, der Respekt vor seiner persönlichen Geschichte, der Respekt vor seinem Glauben.
Kosmisch zu denken bedeutet auch, dass wir von der Tatsache ausgehen, dass alles miteinander verbunden ist. Heutzutage wird häufig gefordert, dass Kinder und Jugendliche wieder vernetzt denken können sollten. Hintergrund dieser Forderung ist die Wahrnehmung, dass unsere Welt immer komplexer und ineinander verwoben erscheint. Das berühmte Beispiel, dass ein Flügelschlag eines Schmetterlings im fernen Urwald in Asien direkte Auswirkungen auf uns und unser Leben haben kann, soll dieses Gefühl unterstreichen.
Montessoris Idee, dass alles miteinander im Zusammenhang steht ist aber wesentlich weiter gefasst und gedacht als "vernetztes Denken" normaler Weise meint. Maria Montessori betont, dass jedem Ding, jedem Stein, jedem Tropfen, jeder Blüte, einfach allem eine kosmische Aufgabe obliegt. Die "Geschichte" vom Wasser (in Maria Montessori, Von der Kindheit zur Jugend) macht dies auf besondere Art und Weise deutlich: In diesem Ansatz steckt die Hochachtung vor jeder kosmischen Aufgabe, und daraus lässt sich ein weiterer Grundgedanke der Montessori-Pädagogik ableiten. Die Achtsamkeit gegenüber der jeweiligen Bestimmung: Zu etwas bestimmt sein, das gilt für Steine, Pflanzen, Tiere und erst Recht für den Menschen. Nicht fatalistisch gedacht, sondern zutiefst positiv.
Gerade hier schließt sich für mich ein ganz wichtiger Kreis. Montessori fordert immer wieder, dass dem Kind in seiner Entwicklung das gegeben werde, was es für diese benötigt. Das ist der kosmische Grundgedanke ihrer gesamten Pädagogik. Gebt dem Kind das seiner Entwicklung entsprechende, damit es zu einem Menschen heranwachsen kann, der sich in der kosmischen Ordnung eingebettet fühlt, die es selber im Heranwachsen erfahren durfte.
Und damit sind wir beim "letzten Punkt". Kosmisch denken bedeutet weiters, dass wir dem Menschen eine besondere Stellung innerhalb der Ordnung einräumen. Maria Montessori spricht davon, dass die Aufgabe des Menschen darin besteht die Schöpfung zu vollenden. Dies, weil der Mensch als einziger den Plan der Schöpfung erkennen und sich seiner Verantwortung in ihr bewusst werden kann. Einzig der Mensch hat also die Chance Neues zu bewirken, er steht in dem Spannungsfeld zwischen Freiheit und Bindung und kann sein Wissen im Interesse oder gegen das Interesse der Welt verwenden.
Wenn also "eine Ordnung hinter allem wahrnehmen", "Achtsamkeit gegenüber der kosmischen Aufgabe entwickeln" und "die Vollendung der Schöpfung durch den Menschen" die Wesensmerkmale einer montessorischen, ist gleich kosmischen Haltung ist, kann es natürlich sein, dass auch Menschen, die noch nie von Montessori gehört haben, genau in ihrem Sinne denken und handeln. Gerade darin liegt für mich dann auch eine Bestätigung der Montessori-Pädagogik als Lebenshaltung.
Und darin steckt - finde ich - auch eine große Portion Hoffnung. Kosmisch zu denken kann man entwickeln, auch wenn man unter anderen Bedingungen aufgewachsen ist. Kosmisch denken kann man vielleicht auch lernen, wobei ich glaube, dass einüben der bessere Begriff dafür ist, gleichgültig, wie alt eine/r ist. Es ist also eine bewusste Entscheidung, die Welt so wahrzunehmen. Wenn man will, ist es auch eine philosophische Leistung und damit abgegrenzt gegen "esoterisches" Gefühl. Und genau aus diesem Grund stellt sich dann die Frage, was es heißen kann, kosmisch zu handeln um die Verantwortung gegenüber der Schöpfung auch zu übernehmen.
Immer wieder wird Montessori-PädagogInnen entgegengehalten, dass die Welt in Wirklichkeit schließlich ganz anders sei und nach anderen Spielregeln funktioniere. Da schwingt manchmal auch der Vorwurf der Weltfremdheit mit oder die Idee, dass wir unsere Kinder unter einer Käseglocke aufwachsen ließen.
Dem möchte ich entschieden widersprechen: Kosmisch zu denken ist weder blauäugig noch hat es mit dem Tragen von rosaroten Brillen zu tun. Wir alle wissen um die Mechanismen der Welt, wir wissen aber auch, dass Veränderung im Kleinen ebenso wie im Großen geschehen muss und dass auch dieser Weg mit einem ersten Schritt beginnt. Die Welt im Sinne Maria Montessoris und anderer, die so dachten und denken, zu verändern, heißt das Neue zu versuchen ohne das Alte zu leugnen und heißt auch, das was am Alten gut gewesen ist, zu bewahren und zu erweitern.
So gesehen stehen Montessori-PädagogInnen in der Tradition vieler, die an Utopien glauben und es gilt das (noch) Ortlose zu orten und ihm einen Platz einzuräumen. "Wenn eine/r es träumt, dann bleibt es ein Traum, wenn viele es träumen, dann beginnt die Wirklichkeit" heißt es in einem Zitat, dessen Autor ich leider nicht kenne.
3. Kosmisch lehren - wie und was?
3.1. Vorbemerkung
Die vorher herausgearbeiteten Wesensmerkmale zeigen eigentlich schon klar, dass diese Art zu denken dem Menschen nicht angeboren ist, sondern dass wir gewisse Voraussetzungen brauchen um diese Haltung erwerben zu können. Der Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen besteht darin, dass Kinder, wenn sie ihrer Bestimmung gemäß aufwachsen dürfen, ein ungeahntes Potential entfalten können, wohingegen wir Erwachsenen uns in einer bewussten Willensentscheidung dorthin wenden und noch Teile unseres Potentials entfalten können. Genau darin sieht Montessori ja die Hoffnung für die Menschheit: Kinder die in echter Freiheit und Bindung aufgewachsen sind werden die Gesellschaft verändern können. In diesem Sinn zumindest verstehe ich auch Montessoris Grabinschrift.
Was also brauchen Kinder um sich im Sinne des kosmischen gut entfalten zu können? Allem voran brauchen Kinder Ordnung (mehr dazu weiter unten). Ordnung und Struktur ermöglichen dem Kind sich in Raum, Zeit und Sozialem zu orientieren. Wenn Kinder sich in ihrer Welt gut orientieren können, bekommen sie Halt und Sicherheit und können somit Selbst-Sicherheit aufbauen. In dieser Gedanken-Kette steckt die ganze Bedeutung die wir Montessori-PädagogInnen der Ordnung beimessen.
3.2. Wie lehrt man kosmisch?
Beim Blick in Montessori-Schulen kann eine leicht das Gefühl beschleichen, kosmisch zu lehren bedeute, eine Fülle an Ketten, Bändern, Modellen, Karteien erzeugen oder kaufen zu müssen und dann wäre die kosmische Erziehung sozusagen am Laufen. Hier die Planeten, dort die 10.000-Jahreskette und - wenn es das Budget - erlaubt auch noch alle Puzzlekarten und die Nomenklaturkartei. Ich liebe diese und die vielen anderen Materialien von Herzen, ich freue mich immer wieder über neue Möglichkeiten, umfassende Themen aufbereiten zu können, und ich liebe Gespräche mit KollegInnen über all das. Und doch: Wir können in einer perfekt eingerichteten Montessori-Klasse einen nicht kosmischen - und ich behaupte damit eben auch nicht montessorischen - Unterricht erleben. Was also macht den Unterschied?
Der Begriff Kosmos kommt aus dem Griechischen und bedeutet "Ordnung", "Welt", "Weltall" "Weltordnung"
Dass die Montessori-Pädagogik viel mit Ordnung zu tun hat, ist in der Zwischenzeit auch bei Menschen, die diese Art zu leben nicht so gut kennen, angekommen. Die Vorwürfe, dass Mo-Kinder doch nur machen, was sie wollen, werden seltener, auch wenn sie wahrscheinlich nie ganz verstummen werden.
Montessori-PädagogInnen verbinden mit dem Begriff Ordnung meist einerseits einen Anspruch an die Vorbereitete Umgebung und andererseits die Sensible Phase für Ordnung, mit der Tatsache, dass Kinder ihre inneren Ordnungen über die äußere Ordnung aufbauen und das strukturierte Sinnesmaterial dabei eine wichtige Rolle leistet. Das alles ist selbstverständlich richtig und wichtig.
Doch ist das alles? Was ist denn in den weiteren Entwicklungsetappen? Was transformiert sich und was hat das alles mit Kosmischer Erziehung zu tun? Das möchte ich in den folgenden Abschnitten gerne herausarbeiten.
Welche Rolle spielt also die Ordnung im menschlichen Leben?
Die erste Entwicklungsetappe des menschlichen Lebens möchte ich mit dem Motto "In die Ordnung finden" näher umschreiben. In dieser labilen und gleichzeitig schöpferisch kreativen Zeit legt das Kind die Basis für seine Intelligenz und seine Persönlichkeit. Es kommt mit einem riesigen Potential auf die Welt und bedarf einer gut vorbereiteten Umgebung, um die Ordnungen in vielerlei Hinsicht in sich aufzunehmen.
Mit Hilfe seiner Sensorik und Motorik entwickelt das Kind ein Gefühl von oben und unten, von vorne und hinten, von links und von rechts. Je älter es wird, desto klarer erkennt es räumliche Ordnungen und lernt sich in diesen zu bewegen. Ähnliches geschieht in zeitlicher Hinsicht. Aus dem Absorbieren verschiedenster Rhythmen (Tag/Nacht, Tagesabläufe etc) entwickelt es die Fähigkeit Zeit wahrzunehmen und stellt uns Fragen à la "Wie oft muss ich noch schlafen bis..."
Der dritte Bereich, wo das Kind aus der äußeren Ordnung seine eigene innere aufbaut, ist der soziale. Es erlebt und erfährt, wie Menschen einander grüßen, was man macht, wenn man etwas geschenkt bekommt, dass man sich die Hände wäscht bevor man sich zu Tisch setzt und noch ganz vieles mehr.
Kosmische Erziehung im Kinderhaus heißt für mich daher neben der Beobachtung der Natur im Garten oder der Pflege der Tiere in der Gruppe vor allem auch die Kinder in die sozialen Ordnungen der jeweiligen Gesellschaft einzubetten. Das Montessori-Kinderhaus ist die Vorbereitete Umgebung für motorische, sensorische, soziale, emotionale und kognitive Entwicklung. Seine Aufgabe muss es daher sein, Sicherheit und Geborgenheit zu vermitteln.
In dieser Entwicklungsetappe interessieren sich Kinder für einzelne "kosmische" Phänomene, doch sind sie noch nicht so weit, sich systematisch mit den Phänomenen der Welt auseinander setzen zu müssen.
Für die zweite Entwicklungsetappe wähle ich als Motto "Sich als Teil der Ordnung erfahren".
Während junge Kinder sich in irgendeiner Art und Weise noch als Nabel ihrer subjektiven, kleinen Welt erleben, stehen bei Kindern jener Altersgruppe moralische und soziale Sensibilitäten im Vordergrund. Sie wollen ihre Welt erobern indem sie alleine einkaufen gehen, den Schulweg bewältigen und manches bereits unabhängig von der Unterstützung durch Erwachsene erledigen.
Da in diesem Alter ja auch der Übergang des kindlichen Geistes zur Abstraktion stattfindet, kann sich das Schulkind mit Hilfe der "feurigen Imagination" in die verschiedensten Zeiten und Gegenden versetzen. Im Kennenlernen der Geschichte ebenso wie im Erleben des Laufs der Planeten wird es von der Frage bewegt, wo es denn selber seinen Platz habe und wo der Mensch denn seine Aufgaben finde. Die großen Geschichten der Kosmischen Erziehung bedienen dieses Bedürfnis. Schreiben, lesen, rechnen - der Erwerb der Kulturtechniken lässt sich mit einem kosmischen Hintergrund ganz anders verstehen. Es ist eine natürliche Frage, sich zu überlegen, wie wohl die Menschheit zu schreiben begonnen haben mag, wenn ich als Kind gerade diesen Prozess an mir erlebe.
Die Parallelen von Phylogenese und Ontogenese sind gerade hierbei eindrucksvoll zu beobachten.
Wenn sich Kinder im Alter zwischen 6 und 12 Jahren also als Teil der großen Ordnung erfahren wollen (und es damit für eine gesunde Entwicklung eigentlich auch müssen) wird klar, weshalb die dritte Sensibilität sich auf die Frage von gut und böse / richtig und falsch richtet. Was hält die Gesellschaft zusammen, was sind die Regeln nach denen sie lebt, was darf man daher und was ist nicht in Ordnung?
Aus all diesen Gründen wird einsichtig, weshalb die eigentliche Kosmische Erziehung in dieser Alterstufe Prinzip sein muss. Hierin erfährt das Kind genau jene Zusammenhänge, die ihm Sicherheit und Geborgenheit vermitteln und gleichzeitig seinen großen Hunger nach Wissen und Erkenntnis des Ganzen stillen. Wenn Montessori davon spricht, dass in diesem Alter der "Keim für die Wissenschaft" gelegt wird, so deckt sich das mit der Erfahrung unzähliger Montessori-PädagogInnen, die ihre SchülerInnen als wissenschaftlich, philosophisch und theologisch interessiert erleben.
Auch in der dritten Entwicklungsetappe spielt die Ordnung eine Rolle. Einerseits in dem Motto "Die Ordnung hinterfragen - die Gesellschaft verändern" und andererseits in der Tatsache, dass gerade Jugendliche eine große Sensibilität für Schutz und Geborgenheit mitbringen. Wer die Grenzen überschreiten will und für sein Wachstum auch muss, bedarf des Netzes um hineinfallen zu können.
Jugendliche suchen daher Geborgenheit und Sicherheit in ihren Gruppen und benötigen liebevolle Klarheit von Eltern und LehrerInnen um sich orientieren zu können und zu probieren, was geschieht, wenn man anders ist als die Generationen zuvor.
Das Jugendalter ist geprägt von Fragen zu gesellschaftlichen Normen und Einstellungen, von der Idee, das was bisher gegolten hat mit den eigenen Ideen zu verändern und zu verbessern. Jugendliche wollen Verantwortung übernehmen und Pädagoginnen und Pädagogen täten gut daran, ihnen diese auch zu geben.
Hierin liegt ein Stück weit auch eine Tragik. Junge Menschen haben in unserer Gesellschaft einen geringen Stellenwert. Sie werden in wenigen Bereichen berücksichtigt, ihr Engagement wird häufig nicht ernst genommen, statt dessen erwartet man von ihnen, sich für Lerninhalte zu interessieren, aus deren Alter sie in gewisser Art und Weise herausgewachsen sind. Gerade da wären PädagogInnen, die kosmisch denken können, wirklich gefragt.
Wenn die Entwicklungsetappen gut aufeinander aufbauen konnten, dann erleben wir junge Erwachsene zwischen 18 und 24 Jahren die mit Freude und Engagement "Die Ordnung gestalten".
3.3. Was lehrt man kosmisch?
Im vorangegangenen Kapitel habe ich den Fokus auf die Haltung einer kosmischen Pädagogin, eines kosmischen Pädagogen gerichtet. In diesem Kapitel möchte ich mich vor allem mit den Inhalten auseinander setzen ohne genaue Materialbeschreibungen zu geben.
Wenn es in der kosmischen Erziehung um das Erlebbarmachen von Ordnungen, von großen Zusammenhängen geht, dann muss auch klar sein, dass das immer unter dem Gesichtspunkt des Exemplarischen stattfinden wird. Es geht also nicht darum, den Lehrplan so zu durchforsten, dass die naturwissenschaftlichen Themen durch einzelne Material-Schachteln oder "kosmische Projekte" abgedeckt werden. Montessori-Pädagogik orientiert sich am Kind und nicht am Lehrplan. Selbstverständlich ist es legitim, das, was die Kinder sich erarbeitet haben, dann so zu beschreiben, dass es auch den Kriterien des Lehrplans gerecht wird.
Wenn man aber in manchen Montessori-Klassen Regale voller "Themenschachteln" (eine zum Hund, eine zur Katze, eine zum Schaf, eine zu den Sagen des Landes und noch eine zu den Flüssen und Bergen.....) sieht, dann geht dies in meinen Augen am kosmischen Auftrag vorbei. Und statt der großen Geschichten zur Entstehung der Erde, des Lebens, der Kultur gibt es "G'schichterln" über reisende Wassertröpfchen, die vielleicht sogar einen Namen haben, über personifizierte Tiere oder singuläre Früchte. Worin sollen sich Kinder denn dabei finden?
Ähnlich geht es mir, wenn ich einen Blick in die Freiarbeitsklassen, vor allem in der Sekundarstufe werfe. Da gibt es Arbeitspläne zu Dominos, Trizzles, Stöpselkarten, Arbeitsblättern, Partnerübungen und vieles mehr, die sich in einem - manchmal auch in mehreren Fächern - mit aktuellen Themen des Lehrplans beschäftigen. Die SchülerInnen dürfen diesen Plan dann innerhalb einer vorgegebenen Zeit in ihrem Tempo absolvieren. Das entspricht in keinem Fall einer echten freien Wahl und noch weniger der Idee, das große Ganze zu erfassen.
Wenn ich den Slogan "SchülerInnen das vernetzte Denken lehren zu müssen" höre, beschleicht mich immer wieder das Gefühl, dass wir Kindern und Jugendlichen etwas beibringen sollen, was sie ursprünglich einmal besessen hatten und was ihnen in vielen Jahren gezielt abgewöhnt worden ist. Wer einmal in einem Kreis mit Kindern gesessen ist und erlebt hat, wie einfach und mühelos Kinder assoziieren und von einem Thema ins andere fallen können, wird überzeugt sein, dass vernetztes Denken von Natur aus angelegt ist und dass es nur darum gehen kann, es ihnen nicht abzugewöhnen.
Und noch eine Gefahr, die es zu vermeiden gilt: Kindern die wunderbare Komplexität der Welt zu vermitteln, ihnen zu zeigen was alles wie zusammenhängt heißt nicht, ihnen Verantwortungen aufzubürden, die sie noch nicht tragen können. Während ich an diesem Artikel schreibe, fällt mein Blick zufällig auf eine aufgeschlagene Zeitung. In dieser finde ich einen Beitrag zu den Gefahren des Rauchens und was die Gesellschaft alles tun könnte und müsste um gesünder zu leben. Und mitten unter den verschiedenen Statements finde ich die Aussage eines Mediziners, der es ungemein begrüßt, dass auf Zigarettenschachteln jetzt Warnhinweise und wenn es nach ihm ginge bald auch Abbildungen von Raucherbeinen und Krebsgeschwüren zu sehen gibt. Seine Begründung ging dahin, dass die Kinder, die dies lesen und sehen würden dann ihren Eltern ein schlechtes Gewissen machen würden und das fand er gut und begrüßenswert. Was es allerdings mit den Gefühlen der Kinder macht, die hier plötzlich Verantwortung für die Gesundheit ihrer Eltern bekommen, das hat er nicht erwähnt.
Ähnliches gilt dann auch für Themen wie Atomstrom, Gewalt in der Familie, Umweltverschmutzung durch Verkehr und Industrie u.v.m. Dies alles sind Probleme, die wir mit Jugendlichen andenken können, im Alter von 6 bis 12/14 sollte der Aspekt von Ordnung und Sicherheit unbedingt vorherrschen.
Wie sollte also eine kosmische Umgebung beschaffen sein? Ich denke, es bedarf in erster Linie der kosmisch denkenden PädagogIn, die ihre Vorbereitete Umgebung ausrichtet an den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen, die die Materialien gestaltet, die den Kindern den Blick auf das Ganze ermöglichen. Natürlich gehören dazu alle Materialien, die schon Maria und Mario Montessori entwickelt haben. Diese haben sich in vielen Jahren wahrlich bewährt. Zusätzlich wird sicher auch das eine oder andere neue Material benötigt werden, wenn die Schülerinnen und Schüler auf neue Themen stoßen. Kosmische Erziehung muss aber auch heißen, dass die Kinder und Jugendlichen viele Erfahrungen in der Welt sammeln können, die dann wieder Auswirkungen auf das Leben in der Schule haben müssen. Mario Montessori ist mit den Kindern in Kodaikanal in den Dschungel gegangen, bevor er ihnen die Modelle und Karten angeboten hat. "Das Fenster zur Welt" ist gerade im Grundschulalter weit zu öffnen.
4. Kosmisch handeln - was ist zu tun?
Wir leben in einer Zeit des immer rascheren Wandels, in einer Zeit, in der heute plötzlich etwas möglich und denkbar ist, was gestern noch völlig im Bereich des Undenkbaren gelegen ist. Immer mehr wird machbar, von dem wir nicht ahnen, welche Folgen es für den Einzelnen ebenso wie vielleicht für die gesamte Menschheit hat. Wir leben also in einer Zeit, in der der Ethik eine besondere Rolle zukommen müsste.
Was mich in diesem Zusammenhang manchmal wundert, häufiger aber auch betroffen macht ist, dass zu den brennenden gesellschaftlichen Fragen von Seiten der Montessori-Pädagogik einfach nicht Stellung genommen wird. Einzelne Artikel sind auch hier nur die bestätigende Ausnahme. Unsere montessorische - sprich kosmische - Sicht auf die Welt muss doch, wenn wir Montessoris Anspruch von der "Erziehung für eine neue Welt" ernst nehmen, auch politisch gedacht werden.
Auf Montessori-Kongressen, -Tagungen -Symposien können wir uns lange unterhalten, welche Materialien besser und schlechter dazu geeignet sind eine bestimmte Epoche darzustellen. Wir verbringen viel Zeit damit, uns in internen Zirkeln mit der genauen Bedeutung von Freiheit und Bindung zu beschäftigen und wir können auch lange über die Vorteile verschiedener Ausbildungsformen parlieren. Versteht mich nicht falsch, auch mir ist das alles wichtig und ich beteilige mich mit Freude an diversen Fachgesprächen mit KollegInnen aus der ganzen Welt.
UND trotzdem wünsche ich mir, dass wir anfangen über die Tellerränder unserer Einrichtungen hinauszuschauen und Stellung zu beziehen zu den Themen der heutigen Zeit. Wo sind die Artikel von uns Montessori-PädagogInnen zur Gentechnik, wo beziehen wir Stellung, wenn es um die Arbeit von Kindern geht? Ein Detail am Rande: zur Zeit gibt es via Internet Montessori-Material zu kaufen, das im fernen Osten produziert wird und daher wesentlich kostengünstiger ist als das, was in unseren Ländern erzeugt wird. Bis jetzt habe ich die Frage noch nicht gehört - und sie auch noch nicht selber nachhaltig gestellt - unter welchen Bedingungen und von wem dieses Material produziert wird.
Wieso haben wir Montessori-PädagogInnen keine VertreterInnen bei Kongressen, die sich mit anderen, alternativen Wirtschaftsformen befassen (die "Wild-PädagogInnen" sind dort eher zu finden). Wo sind wir, wenn es um politische Themen geht. Ich wünsche mir eine VertreterIn, die im Namen der Kinder und Jugendlichen deren Rechte im europäischen Kontext einfordert. Gerade hier hätten wir soviel zu sagen, gerade in diesem Bereich wissen wir wahrscheinlich mehr als viele andere ExpertInnen und könnten so einiges zu Verbesserung der Lebensqualität beitragen.
Als eines der Wesensmerkmale des kosmisch denkenden Menschen haben wir herausgearbeitet, dass es Aufgabe des Menschen ist, die Schöpfung zu vollenden. Dies inkludiert, dass Montessori-PädagogInnen sich für den Erhalt der Umwelt einsetzen müssen. - Montessori-Pädagogik ist Umwelterziehung.
Weiters inkludiert diese Aufgabe darauf zu achten, dass der Frieden im Kleinen wie im Großen gemehrt werde. Montessori-Pädagogik ist Friedenserziehung. Und diese beginnt beim Einhalten der Regeln der Gruppe, beim Respektieren des anderen in seiner Andersartigkeit, beim Darauf-Achten, dass der Umgang miteinander von Achtsamkeit und Toleranz geprägt ist, und endet bei den Themen des Weltfriedens.
5. Schlussbemerkung
Montessori-Pädagogik ist mehr, als lieb und mit Material mit Kindern zu rechnen, zu schreiben, zu lesen und sogar noch mehr, als mit ihnen die Sterne zu beobachten. Montessori-Pädagogik muss auch heißen, dass wir als politische Kraft beginnen aktiv zu werden. Nicht indem wir die Kinder/Jugendlichen dazu missbrauchen indem wir ihnen die Verantwortung für die Welt aufbürden, sondern indem wir klar unsere Positionen beziehen. Dann erst wird die kosmische Erziehung kraftvoll ihre Wirkung entfalten können, wenn sie authentisch von kosmisch denkenden Menschen vermittelt wird.
Quelle: Autorin - Christiane Salvenmoser / www.montessori.at
Herausgegeben in Ela Eckert, Ingeborg Waldschmidt; Kosmische Erzählung in der Montessori-Pädagogik, LIT-Verlag2007, Berlin